Die unwirkliche Wirklichkeit
Wir haben alles gesehen und nichts erlebt!
Es gibt an den Börsen viele Gefahren, denen sich die meisten Anleger überhaupt nicht bewusst sind. Eine davon, habe ich Ihnen heute mitgebracht: Die Informationsflut ist mittlerweile kaum noch zu überblicken. Die Vielzahl an Meldungen richtig einzuordnen - und daraus sinnvolle Handlungen abzuleiten - ist für die meisten Anleger unmöglich geworden. Wie entsteht dieses Phänomen und wie kann ich diesen Fallen entgehen?
Oberflächlichkeit nimmt massiv zu
Ein makabres Beispiel: "Die Piloten sind blau im Gesicht. Wir sind alle durchgefroren. Lebe wohl." - Dieser Text einer dramatischen Handy-Mitteilung ging seit Sonntag um die Welt. Fast alle Nachrichtenagenturen haben diese Meldung "ungeprüft" verbreitet. Die Sensationsgier fordert eben ihren Tribut. Es soll ein verzweifelter letzter Gruß eines Passagiers gewesen sein, der an Bord der abgestürzten Boeing 737 der Helios Airways vor Athen war. Mittlerweile bezeichnet die griechische Polizei diese Informationen als falsch und schlicht erfunden. In der nordgriechischen Hafenstadt Thessaloniki nahmen Polizeibeamte einen 32-jährigen Mann fest. Dieser hatte nach dem Unglück am Sonntagabend griechische Radiosender angerufen und behauptet, sein Cousin hätte ihm mit einer SMS mitgeteilt, er erfriere. Dies war laut Polizei frei erfunden. Der Festgenommene sagte den Beamten, er "wollte einmal ins Fernsehen kommen".
Der Papst mit beeindruckenden Worten
Der damalige Kardinal Ratzinger und heutige Papst Benedikt XVI. hat dieses Phänomen bereits 1996 sehr treffend beschrieben: "Heute ist die Wiedergabe des Ereignisses in den Medien wirksamer als das Ereignis selbst. Das Erscheinende löst die Wirklichkeit ab. Nicht das, was geschehen ist, gesagt, gedacht wurde, zählt, sondern das, was dann erscheint in den Medien. Und das ist ein Problem unserer heutigen, sagen wir: medialen Existenz, dass wir weitgehend durch den Schein, durch die Erscheinung nicht bis zur Wirklichkeit durchdringen können und damit in einer unwirklichen Wirklichkeit leben. Denn diese unwirkliche Wirklichkeit, die aber erschienen ist, die sich in Bildern gezeigt hat, die wird dann doch eine Macht und bestimmt weitgehend das Denken und Handeln der Menschen."
Die Generation Tagesschau
Mit meinen nunmehr 36 Jahren bin ich ein typischer Vertreter der "Generation Tagesschau". Sie erinnern sich sicher an die Zeiten, als privates Fernsehen noch undenkbar war, und ein Nachrichtensprecher uns nüchtern und sachlich die wichtigsten Nachrichtensendungen des Tages vorlas. Diese Zeiten sind längst vorbei und eine gefährliche Entwicklung hat sich rasant entwickelt.
Nachrichten sind ein Produkt geworden
Die neutrale und sachliche Berichterstattung ist längst verschwunden. Eine Nachricht ist heute ein kommerzielles Gut, ein Produkt und eine Ware geworden, die es trefflich und gewinnorientiert zu vermarkten gilt. Die simple Wahrheit bzw. Wirklichkeit bleibt hier immer öfter auf der Strecke. Es ist mittlerweile fast unmöglich geworden, Marketing und Nachrichten voneinander zu trennen. Unwichtige und teils absurde Meldungen vermischen sich mit historischen Ereignissen in den Nachrichtensendungen.
Die Mediengläubigkeit ist immer noch erstaunlich hoch
Menschen sind großteils visuelle Wesen. Wir sind es gewohnt das zu glauben was wir sehen bzw. lesen. Kritisches Nachdenken haben wir offenbar weitestgehend "verlernt". Im letzten Jahr sagte ein Zuhörer - auf einem Vortrag von mir - einen erstaunlichen Satz. "Aber Herr Grüner, das steht doch in der Zeitung". Er hat dieses Problem damit unbewusst, aber sehr treffend beschrieben. Meine kurze Antwort: "Dann fragen wir uns mal: Wie kommt es denn dahin?"
Eine Krise ist immer relativ
Ein guter Bekannter von mir - ein Kriegsreporter - sagte einmal zu mir: "Thomas, wir gehören zu einer Generation, die im Fernsehen alles gesehen hat, aber nichts selbst erlebt. Das führt zu gewaltigen Verzerrungen der Sichtweisen." Da hatte er sicher Recht. Wir sehen grausame Ereignisse über unseren Bildschirm flimmern, lesen von unglaublichen Massakern und können uns trotzdem nicht im Geringsten vorstellen, was es bedeutet, selbst von diesen Geschehnissen betroffen zu sein. In Deutschland wird dieses "visuelle Krisenempfinden" immer absurder. Die Generation unserer Großeltern hat das damals zerbombte Land quasi aus dem Nichts wieder aufgebaut. Im Alter, in dem ich mein Abitur machte, verbrachte mein Großvater den Winter in Kriegsgefangenschaft. Und wir wähnen uns - durch die Medien massiv verstärkt - in einer tiefen Krise. Tut mir leid, aber was soll das?
Das Internet als Quelle unsinniger Thesen
Das Internet ist für viele eine neue, "virtuelle Heimat" geworden. Man chattet, diskutiert in Foren zu den verschiedensten Themen miteinander und bewertet Nachrichten und Ereignisse. Oftmals ist es so, dass Menschen mit ähnlichen Sichtweisen und Meinungen sich in den diversen Boards versammeln. Es entsteht eine "gefährliche Gruppendynamik" und man neigt unbewusst dazu, dieser dort herrschenden Mehrheitsmeinung zu vertrauen und auch zu glauben. Plötzlich werden dann die absurdesten Verschwörungstheorien plausibel und glaubwürdig. Und man sitzt in der "virtuellen Meinungsfalle", in der - wie es unser Papst ausdrückt - unwirklichen Wirklichkeit!
Fazit
Nachdenken und angebliche Zusammenhänge kritisch zu hinterfragen - und auch zu überprüfen - ist ein elementarer Bestandteil meiner täglichen Arbeit in der Vermögensverwaltung für meine Kunden. Ungeprüft angeblich wichtigen Meldungen, Nachrichten und Zusammenhängen Glauben zu schenken, ist an der Börse extrem gefährlich und anschließend meist auch teuer. Machen Sie sich dieses Problem bewusst, tappen Sie nicht in diese Fallen! Denken Sie ruhig auch mal "quer".